Kunstwerke aus Fleisch und Blut: Die Live Art-Ausstellung „12 Rooms“ im Essener Museum Folkwang konfrontiert den Besucher mit ungewohnten Situationen. Ein Ausstellungsbesuch von Nicole Büsing & Heiko Klaas.
Wer regelmäßig mit dem Aufzug fährt, kennt die Situation: Man drückt auf den Knopf, die Tür öffnet sich, man tritt ein, und plötzlich befindet man sich auf engstem Raum zusammen mit einer oder mehreren fremden Personen. Geübte Großstädter gehen natürlich souverän damit um. Man grüßt sich und schaut irgendwie an dem anderen vorbei. Ab und zu aber entsteht unvermittelt eine Intimität, die man erst einmal aushalten muss: Das Gegenüber spricht vielleicht mit sich selbst, bohrt unverhohlen in der Nase oder übt sich in anderen Verrichtungen, die außerhalb des sozial Erwartbaren liegen. Nun gilt es, sich selbst zu positionieren.
Ganz ähnliche Erfahrungen machen auch die Besucher der Ausstellung „12 Rooms“ im Essener Museum Folkwang. In einem Dutzend jeweils fünf mal fünf Meter großer Räume wird so genannte Live Art präsentiert. Der Besucher öffnet eine Tür, ohne genau zu wissen, was oder wer ihn dahinter erwartet. Auf jeden Fall aber sollte er darauf gefasst sein, mit Situationen konfrontiert zu werden, die er vielleicht aus dem Theater kennt, aber in dieser Direktheit und unausweichlichen Intimität im Museum bisher nicht erlebt haben dürfte. Er trifft auf individuelle Momente von Nacktheit, bis ins kleinste Detail durchchoreographierte tänzerische Inszenierungen, akrobatische Körperverrenkungen, uniformierte Bundeswehrsoldaten oder Kinder, die wie Aufziehpuppen mit vorher einstudierten Textfragmenten auf die Fragen der Besucher reagieren.
Ausgedacht haben sich diese zehntägige Live Art-Ausstellung zwei der weltweit zur Zeit angesagtesten Kuratoren. Der Schweizer Hans Ulrich Obrist, zur Zeit Co-Direktor der Londoner Serpentine Gallery und der Deutsche Klaus Biesenbach, Chefkurator am New Yorker Museum of Modern Art und außerdem Direktor des MoMA-Ablegers PS1. „12 Rooms“ ist eine Koproduktion der am vergangenen Wochenende eröffneten Ruhrtriennale unter der Intendanz von Heiner Goebbels mit dem Manchester International Festival. Dort war im Sommer 2011 die Ausstellung „11 Rooms“ zu sehen. Für Essen haben Obrist und Biesenbach die Schau jetzt variiert und erweitert. Als „13 Rooms“ wird sie 2013 in Sydney zu sehen sein.
Das Konzept der Schau ist so bestechend einfach wie überwältigend. Live Art ist zeitbasiert. Sie nimmt also nur im Augenblick ihrer Aufführung und Betrachtung durch den Besucher Gestalt an. Sie beruht auf der Anwesenheit lebender Performer, Akteure oder auch Selbstdarsteller im Raum. Aufgeführt werden die Arbeiten in Essen ausschließlich von gecasteten Darstellern, niemals von den Künstlern selbst. Da lässt zum Beispiel der Brit Art-Star Damien Hirst eineiige Zwillingspaare nacheinander im Schichtdienst unter zwei seiner typischen Punktebilder sitzen und eine selbstgewählte Lektüre lesen. Das Spektrum reicht von den kunstaffinen Intellektuellen Esther und Anna, die sich für Rainald Goetz‘ „Festung“ begeistern, bis hin zu den ruhrgebietstypischen Mitfünfzigern Hans und Georg, die es vorziehen, in Motorradzeitschriften zu blättern.
Der Chinese Xu Zhen präsentiert einen akrobatisch verdrehten Körper im Schwebezustand zwischen Fall und Aufgefangenwerden. Der Spanier Santiago Sierra, bekannt für seine provokanten, oft als zynisch verschrieenen Aktionen, stellt Bundeswehrveteranen aus den Kriegen in Ex-Jugoslawien und Somalia zum Schämen in die Ecke. Wer will, darf sie beschimpfen.
12 Rooms. Santiago Sierra – Veterans of the Wars of Yugoslavia, Bosnia, Kosovo, Serbia, and Somalia Facing the Corner, 2012. Foto: Heiko Klaas.
Historischer wird die Schau da, wo sie sich auf die Pioniere der Live-Art besinnt. So wird auch die erstmals 1970 von der New Yorker Performance-Künstlerin Joan Jonas, Jahrgang 1936, aufgeführte Arbeit „Mirror Check“ gezeigt. Eine unbekleidete junge Frau betrachtet jede Partie ihres Körper eingehend mit Hilfe eines Handspiegels. Von der serbischen Performance-Veteranin Marina Abramovic, Jahrgang 1946, wiederum ist der Klassiker „Luminosity“ zu sehen: Eine nackte Frau befindet sich in einer an eine Kreuzigung erinnernden, Affekte wie Leid, Schmerz und Verletzlichkeit aufrufenden Position inmitten eines hell ausgeleuchteten Vierecks.
Egal, ob man sich in die aus zwölf ebenso exzellenten wie abgeklärt wirkenden Tänzern bestehende menschliche Drehtür des amerikanischen Künstlerduos Allora & Calzadilla begibt, mit dem von dem slowakischen Künstler Roman Ondák instruierten Darsteller merkwürdige Tauschgeschäfte tätigt, dem in ein Solarium eingequetschten, athletischen Sprachschüler des Briten Simon Fujiwara beim Vokabelpauken zuhört oder die vollkommen vermummten Schattenwesen im dunklen Verlies des Franzosen Xavier Le Roy erst dann bemerkt, wenn man über sie stolpert: Diese Ausstellung treibt dem Betrachter die sonst im Museum übliche Konsumentenhaltung gründlich aus, indem sie ihn durch ihre Unmittelbarkeit und Intimität ganz einfach dazu zwingt, sich selbst zu den Arbeiten zu positionieren.
12 Rooms – Live Art/Group Show
Museum Folkwang Essen
Museumsplatz 1
D-45128 Essen
bis 26. August. Di-So 10-18 Uhr. Fr 10-22 Uhr
Eine Koproduktion der Ruhrtriennale mit dem Manchester International Festival und der Manchester Art Gallery präsentiert in Kooperation mit dem Museum Folkwang, Essen.
www.museum-folkwang.de
www.ruhrtriennale.de
Katalog
kostenloser Kurzführer, 40 S.