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Annika Kahrs – Strings

Annika Kahrs – Strings

DARE empfiehlt einen Ausstellungsbesuch zu Annika Kahrs – Strings.
Ein Text von Katrin Diederichs.

„Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen.“[1] Die Geräuschkulisse, mit der Robert Musil vor knapp einem Jahrhundert die Verstimmung und Verschiebung der Rhythmen innerhalb der Stadt Wien beschreibt, scheint auch dem Betrachter dieser Arbeit in die Ohren zu gehen. Nur handelt es sich im letztere Fall nicht um das sich stetig wandelnde Timbre der modernen Großstadt, sondern zunächst um eine scheinbare Neuinterpretation des Musikstils, der in diesem Zentrum unterschiedlichster Klangsphären geboren wurde: der Wiener Klassik.

Ein Streichquartett spielt die ersten Takte aus Ludwig van Beethovens um 1800 entstandenem Werk c-Moll op. 18 Nr. 4. In dramatischer Steigerung, so wie es die Partitur vorgibt, tragen Violine, Viola und Violoncello mit anschwellendem Fortissimo und leisen Stakkati zu einem harmonischen Klangbild bei. Die abgestimmte Homogenität findet ein Ende, als das Spiel nach dem ersten Satz beendet wird und jeder Musiker mit seinem rechten Sitznachbarn Platz und Instrument tauscht. Nun, mit dem Instrument des anderen, wendet sich das Blatt. Das Spiel beginnt einen Spagat zwischen Fragilität und Katastrophe: Hier springt ein Ton aus der Reihe, dort entstehen Sekunden der Stille zwischen hellen und scharfen Dissonanzen. Merklich verunsichert kämpfen sich die Beteiligten durch die Partitur.

Insgesamt vier Mal wird seitwärts weitergerutscht, bis jeder Musiker einmal an jedem Platz gesessen hat. Am Ende wird von Seiten der Musiker ein unsicheres Lächeln Richtung Kamera geworfen – das »Vor dem Spiel« ist ein Nachher geworden, und das scheinen die Beteiligten mit Erleichterung festzustellen. Ihr Scheitern verwundert nicht. Unter den instrumentalen Gattungen der Wiener Klassik nimmt das Streichquartett eine Sonderstellung ein. Nicht nur, weil es in dieser Epoche im eigentlichen Sinne erst entstanden ist, sondern weil es von Anfang an mit dem höchsten Wertanspruch verknüpft wurde. Die Anforderung, vier individuelle Stimmen zu einer homogenen Einheit zusammenzufügen, machte es zum „Prüfstein kompositorischer Meisterschaft“.[2] Ein harmonischer Vortrag dieser komplexen Kompositionen setzt folglich eine genaue Struktur und Hierarchie der Musizierenden untereinander voraus. Formal ist die klassische Besetzung eines Streichquartetts seit Jahrhunderten gleich geblieben. Bestehend aus zwei Violinen, Viola und Violoncello, ist die Sitzordnung mit Abnahme der Tonhöhe von links nach rechts festgelegt. Auf diese Weise stehen die Instrumente nicht nur optisch, sondern auch klanglich in einer vorgegebenen Ordnung.

Die Rolle eines jeden Einzelnen innerhalb dieses Systems wird über Form und Klang seines Instrumentes definiert. Wird diese Struktur aufgehoben, kann im Spiel die Verflechtung der Stimmen schnell auseinandergerissen werden und die zuvor nuancenreiche Harmonie zur schrillen Klage verkommen. Der vertrauten „Stimme“ beraubt, müssen sich die Musiker dem beschleunigten Wandel ihrer strukturellen Verhältnisse anpassen: der Violinist muss das robuste Cello mit seinen federnden Bogenstrichen bearbeiten, der Cellist wiederum mit den feinen Seiten der Geige vertraut werden. Die Aufstellung, die sich eingangs präsentierte, besteht nicht mehr. Ding und Mensch sind in einem Wandlungsprozess begriffen, der nach neuen Lösungsstrategien verlangt.

Annika Kahrs hat hier ein gesamtgesellschaftliches Phänomen der postmodernen Lebenswelt aufgegriffen und in einen Kontext projiziert, dessen klare Ordnung aufgelöst und zu einer neuen verkehrt wird. Reihum spielen die Musiker mit höflichen Gebärden – systemkonform und dennoch in einem inhärenten Verfallsprozess begriffen. Jeder Wechsel der Instrumente sorgt für eine Grenzverschiebung, in der die sinnvolle Zuordnung der Aufgaben zugunsten von Multifunktionalität aufgegeben wird. Die Virtuosität der musikalischen Darbietung nimmt ab, gleichzeitig wächst die dramatische Gebärde der Musizierenden, immer stärker gegen den Missklang ankämpfend.

Dieser musikalische Verfall kann als Indiz eines noch nicht vollzogenen Übergangs verstanden werden – ein offener Entwicklungsprozess innerhalb einer sich wandelnden Struktur. Dabei stellt sich die Frage, ob System oder Musizierende die Dissonanzen verursachen. Könnten sie, die zum Wechsel auffordern und diesen vollziehen, ihre Handlungsweise hinterfragen und vom Patiens unter dem aktuellen System zum Agens eines neuen werden? Kahrs Arbeit antwortet mit einem »Noch-Nicht«, das in seiner Offenheit an den Betrachter weitergegeben wird.

Annika Kahrs – Strings
Eröffnung: 22.06.2012, 18 – 21 Uhr,
Ausstellung: 23.06 – 28.07.2012

ph-projects
Produzentengalerie Hamburg
Potsdamer Str. 81b, Berlin

Annika Kahrs - Strings

Annika Kahrs, Strings, 2010, HDV-Video, 8 Minuten, Filmstill

Fußnoten

  • [1] Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd.1 [1930], Reinbek 1978, S. 9.
  • [2] Vgl. Peter Schnaus (Hrsg.), Europäische Musik in Schlaglichtern, Mannheim u. a. 1990, S. 264/265.

 

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