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Andreas Reckwitz – Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung

Andreas Reckwitz – Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung

Die Aufforderung „Be creative!“ ist zu einem allgemeinen Imperativ geworden, Kreativität zum normativen Modell unserer Gesellschaft. Diese These des Kultursoziologen Andreas Reckwitz wird in seinem Buch „Die Erfindung der Kreativität“ mittels aktueller Forschungsergebnisse stringent und aufschlussreich untermauert. Eine Lektüre für jeden, der sich fragt, warum wir alle so unbedingt fortwährend kreativ sein wollen. Eine Buchempfehlung von Isa Maschewski

S chon vor einiger Zeit hat Facebook die „Chronik“ eingeführt. Eine Zeitleiste, an der wir alle, die wir dort ein Profil angelegt haben, unser Leben aufs gründlichste in Wort und Bild dokumentieren können. Mit Hilfe von stetig wechselnden Titelbildern, können wir unserer persönlichen Zeitleiste immer wieder neue Gesichter verleihen und auf jeden Fall ganz sicher gehen, dass jeder, mit dem wir auf dieser Plattform in sozialem (schein-) Kontakt stehen, mitverfolgen kann was uns jeden Tag passiert. Diese Möglichkeit ist alles andere als neu und wird von vielen Seiten angeboten. Ein „Pin It“-Account, der sich übrigens herrlich mit Facebook verbinden lässt, fordert uns ebenfalls auf, fortwährend das, was wir für dekorativ, gut gelungen, schlicht lustig oder auch atemberaubend halten, auf unserer virtuellen Pinnwand zu platzieren. Heute machen wir unsere Postkartensammlungen, Bücherregale, Reise-Souvenirs, Wohnzimmereinrichtungen, Musiksammlungen und Kleiderschränke öffentlich. Mit dieser Öffentlichkeit geht auch eine Art Zwang einher – wenn wir alles teilen, muss das Geteilte es auch wert sein der für uns relevanten Öffentlichkeit präsentiert zu werden. So werden wir also immer ambitionierter, immer kreativer, was unsere Kleidung, Möbel und Musik betrifft denn irgendwo ist uns allen daran gelegen zu beweisen, dass wir bessere Ideen haben als der Otto- oder Ikea-Katalog, und dass für uns ganz andere Werte zählen.

Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz blickt in seinem neuen Buch „Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung“ hinter die Fassade einer solchen Praxis und schreibt den Wunsch nach Abgrenzung vom sogenannten „Mainstream“ keineswegs nur bestimmten Nutzern von Sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter oder Myspace zu, die nicht zu bemerken scheinen, wie gängig ihr zur Schau getragener, „individueller“ Lifestyle bereits geworden ist. In unserer „Kultur der Selbsterschaffung“ wie sie Richard Rorty nannte, werden wir alle immer ambitioniertere Innenarchitekten, Stylisten, kreativ-Köche und DJs, die nicht müde werden ihre, durch die Foto-App „Hipstamatic“ vielleicht noch doppelt unterstrichene, kreative Persönlichkeit zur Schau zu stellen.

Diesen Umstand verdanken wir laut Reckwitz der „Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung: Man will kreativ sein und soll es sein.“ Der Autor, der an der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder lehrt, geht in seiner Studie „Die Erfindung der Kreativität“ noch einen Schritt weiter und beschreibt, wie die Kreativität seit Ende der 80er Jahre immer mehr zum normativen Modell geworden ist.

Nach der Irritation, die das „Ende der Geschichte“ in vielen Hinterköpfen der westlichen Welt hinterlassen hat, bot die Hinwendung zum Wunsch, der Aufforderung „Be creative!“ nachzukommen, mehr und mehr Orientierung. Laut Reckwitz reagiert die Erfindung der Kreativität auf den Rationalisierungsprozess in vielen Alltags- und Lebensbereichen der Moderne. Kreativität hat sinnstiftendes Potenzial, ist dabei aber weit weniger ideologisch als Politik oder Religion – was sie natürlich auch um einiges bequemer macht. Als Teil der „creative class“ werden wir schnell zum idealen Subjekt in unserer kapitalistischen Ökonomie, da wir, um Kreativitätswunsch und Imperativ Folge zu leisten, auch stetig kreative Produkte konsumieren müssen. Auch auf diese Weise wird die Realisierung des Wunsches nach individueller Selbstverwirklichung mehr und mehr zum Imperativ der zeitgleich auch einen wachsenden sozialen Druck ausübt.

In seiner Leitthese spricht Andreas Reckwitz von der Ausbildung eines „ebenso heterogenen wie wirkungsmächtigen Kreativitätsdispositivs“, welches sich innerhalb des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts bis heute in immer mehr Lebensbereichen abspielt. „… von der Erziehung bis zum Konsum, vom Sport bis zum Beruf und zur Sexualität“ – all diese gesellschaftlichen Sektoren und ihre Praktiken werden heute dem kreativen Imperativ untergeordnet.

Der Kreativitätskomplex ist in den letzten Jahren auf vielfältige Weise erforscht und beleuchtet worden – von der sich steigernden Ästhetisierung unserer Lebenswelten, über den Künstler als erstrebenswertes Ideal der „creative industries“ bis hin zur immer größer werdenden Zahl an Burn-Outs, Depressionen und deren Therapien.

Reckwitz gelingt es die Erkenntnisse dieser Forschungen in einer prägnanten, sehr lesenswerten Analyse zusammenzuführen. Eine lohnenswerte Lektüre, nach deren Ende wir uns fragen müssen, ob der kreative Imperativ uns zwar zu schöpferischen, aber paradoxerweise auch zunehmend in einen Wettbewerb eintretenden Einzelkämpfern werden lässt, denen die eigenen Erfüllungswünsche den Blick auf die Zwänge verstellen, denen wir unterliegen.

Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität.
Zum Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung

Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
368 Seiten, 16,50 Euro
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1 Comment

  1. Fabian
    22.08.12

    Guter Text über ein gutes Buch!